Ein skurriles Fossil ist im Geraer Museum für Naturkunde ausgestellt. Auf einer 23 mal 15 Zentimeter großen Tonschieferplatte befindet sich eine auffällige, gewundene Struktur, die an einen mäandernden Flusslauf erinnert. Das Schiefergestein ist rund 340 Millionen Jahre alt und stammt aus dem Erdzeitalter Mississippium, dem älteren Teil des Karbons. Gefunden wurde die Schieferplatte im „Herrschaftlichen Bruch“ beim ostthüringischen Wurzbach. Vermutlich war es um 1860, als das Fossil im Schieferbruch geborgen wurde.
Anschließend gelangte das Fossil nach Gera, in die sogenannte „Geologische Landessammlung“. 1858 gilt als Jahr ihrer Gründung durch Heinrich XIV. von Reuß jüngerer Linie (1832-1913). Er verfügte damals die Abführung besonderer Exponate aus den herrschaftlichen Erzgruben („Eisensteingruben“) und Schieferbrüchen nach Schloss Osterstein in Gera.
Ein Ausschnitt von genau diesem Fossil wurde 1867 als detailgetreue Zeichnung in einer umfangreichen Publikation des Geraer Gymnasialprofessors Karl Theodor Liebe (1828-1894) und des in Altenburg geborenen Geologen, Mineralogen und Paläontologen Hanns Bruno Geinitz (1814-1890) abgedruckt. Ohne so recht zu wissen, ob die merkwürdige Struktur pflanzlichen oder tierischen Ursprungs ist, wurde sie damals zu Ehren von Heinrich XIV. Crossopodia henrici genannt. Der in Gera geborene Geologe Ernst Zimmermann (1860-1944) erkannte 1892, dass Crossopodia henrici nur eine bestimmte Ansicht eines komplexen Fossils ist, deren unterschiedliche Perspektiven zuvor für grundverschiedene Fossilien gehalten wurden. Wenige Jahre zuvor hatte Christian Ernst Weiss (1833-1890) in Berlin erstmals den Gattungsnamen Dictyodora für dieses Fossil vorgeschlagen.
Im 20. Jahrhundert verfestigte sich dann immer mehr die Ansicht, dass es sich bei Dictyodora um ein Spurenfossil handelt. Spurenfossilien sind versteinerte Spuren bzw. versteinertes Verhalten von ehemals existierenden Lebewesen. Sie dokumentieren die Bewegungen eines Tieres als es noch lebte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts widmeten paläontologische „Schwergewichte“ Spurenfossilien wie Dictyodora intensive Forschung. Adolf Seilacher (1925-2014) war Professor für Paläontologie in Tübingen und Adjunct Professor an der Yale University. In umfangreichen Arbeiten aus den Jahren 1955 und 1967 trug er viel zum Verständnis von Dictyodora bei. Seiner Ansicht nach handelt es sich um dreidimensionale Grab- bzw. Fressgänge von Tieren im feinen Sediment einstiger Meeresböden vergleichbar mit den Strukturen, die Wattwürmer im Wattboden der Nordsee erzeugen.
Um 1981 besuchte Michael James Benton die DDR, um in Ostthüringen Fundstellen von Dictyodora aufzusuchen und Fossilien zu sammeln. Benton ist Professor für Wirbeltierpaläontologie an der University of Bristol (UK) und vor allem als Autor einer Vielzahl von Sachbüchern bekannt. In seiner sehr aufschlussreichen Arbeit zu Dictyodora aus dem Jahr 1982 bildet er die Zeichnung aus dem Jahr 1867 von der hier vorgestellten Fossilienplatte erneut ab. Im Original betrachtet hat er sich das Fossil damals jedoch leider nicht.
Im Gegensatz dazu konnte sich erst im November 2023 die Paläontologin Carolina Gutiérrez aus Argentinien, die weltweit zu Spurenfossilien forscht, die Fossilienplatte im Original betrachten. In den nächsten Jahren sind zahlreiche neue Erkenntnisse zu Spurenfossilien zu erwarten. Sehr wahrscheinlich wird sich ihre Systematik ändern, wodurch das Fossil umbenannt werden muss. Zu sehen ist die Platte seit dem 25. Dezember 2023 in der Sonderausstellung des Museums für Naturkunde Gera.
QUELLE: STADTVERWALTUNG/MUSEUM FÜR NATURKUNDE
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