DAS LINGULA-FOSSIL AUS MILBITZ

Das Objekt des Monats Oktober im Museum für Naturkunde ist ein Fossil aus Milbitz, das nur etwa so groß wie eine Erbse ist. Gefunden wurde es im 19. Jahrhundert an der Schiefergasse. Aufgrund reicher Fossilfunde pilgerten damals zahlreiche Sammler an die Schiefergasse, um ihre Kollektionen zu bereichern. Ein namentlich nicht bekannter Sammler hat dieses Fundstück der „Geologischen Landessammlung“ zugeführt. Diese Sammlung wurde ab 1858 von Heinrich XIV. Reuß j. L. als fürstliche Privatsammlung angelegt. In ihr wurden Gesteine, Mineralien und Fossilien aus den zahlreichen Fundstellen im Fürstentum Reuß jüngere Linie zusammentragen. Zuerst befand sie sich auf Schloss Osterstein, dann im Fürstlichen Palais am Johannisplatz. Im Jahre 1884 wurde sie dem Fürstlichen Gymnasium übertragen und 1920 an das damalige Städtische Museum übergeben. Dort überstanden große Teile die Zerstörungen des II. Weltkrieges und gelangten anschließend in das Schreibersche Haus, in dem heute das Museum für Naturkunde untergebracht ist.

Eine „Zungenmuschel“, die keine Muschel ist
Auf dem abgebildeten fünf mal drei Zentimeter großen Kalksteinstück ist ein Exemplar des kleinen und unauffälligen Fossils gut in der Mitte zu erkennen. Es hat eine ovale Form mit konzentrischen Streifen und wirkt wie eine Muschelschale. Vielleicht nennt man es deshalb umgangssprachlich „Zungenmuschel“, obwohl das absolut falsch ist. Es handelt sich zwar um eine Schale, aber um die eines Armfüßers, auch Brachiopode genannt. Armfüßer sind keine Muscheln, sie gehören auch nicht zu den Weichtieren. Sie sind uns fremd, weil heute weltweit nur noch wenige Arten in den Meeren vorkommen. Anders war das im Erdaltertum bis zum Perm, als auch dieser jetzt in Stein gebettete Armfüßer im Meeresboden in Ufernähe lebte. Er gehört zur Gattung Lingula. Die beiden Schalen dieser Gattung werden nicht durch ein Schloss am Schalenrand zusammengehalten, sondern nur durch Muskeln. Nach dem Absterben des Tieres fielen die Schalen dann in der Regel auseinander und können deshalb nur einzeln gefunden werden.

Ein wahrhaft lebendes Fossil
Erstaunlich ist, dass auch heute in küstennahen Gewässern Südostasiens ein Armfüßer lebt, dessen Schalen denen dieses Fossils gleichen und der auch zur Gattung Lingula gehört. Die Tiere leben im sandigen Schlamm in selbstgebauten Wohnröhren, in dem sie sich mit ihren Muskelstiel bewegen können. Die Muskelstiele werden auch gern in Ländern wie Vietnam oder Thailand z. B. als „Lingula-Salat“ gegessen. Lingula ist ein wahrhaft lebendes Fossil und bildet als solches sogar eine der erdgeschichtlich ältesten lebenden Gattungen überhaupt. Die Gattung Lingula kennt man seit dem Silur etwa vor 420 Millionen Jahren. Damit hat das Tier sozusagen keine Evolution erlebt, sondern zirka 420 Millionen Jahre ohne nennenswerte Veränderungen überdauert. Im Gegensatz zu Millionen Arten hat die Gattung Lingula gigantische Massenaussterben in der Erdgeschichte überstanden, auch das Aussterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit.

Funde bis heute möglich
Bis heute kann man im Nordosten von Gera mit etwas Glück in Baugruben versteinerte Schalen von Lingula finden. Was man dann in den Händen hält, ist ein grandioses Beispiel einer Tiergattung, die eine unvorstellbar lange Zeit unverändert jeder Katastrophe bis heute trotzte. Wenn das Museum für Naturkunde Gera in absehbarer Zeit wieder für den Besucherverkehr öffnet, kann das spannende Fossil in der Sonderausstellung „Herrscher auf dem Meeresgrund – Brachiopoden der Geraer Zechsteinlagune vor 255’000’000 Jahren“ betrachtet werden.

QUELLE: STADTVERWALTUNG

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