In Sachen Gasversorgung stehen Europa offenbar schwierige Zeiten bevor. Russland bietet große Mengen zu günstigen Preisen, favorisiert aber langfristige Verträge und direkte Verbindungen, möglichst über eigene Rohrleitungen. Die USA dagegen möchten Europa als Abnehmer ihres Gases sehen, und damit das bisherige Abhängigkeitsverhältnis beibehalten.
Nachdem Polen bekanntgab, den Liefervertrag mit dem russischen Konzern Gazprom nicht mehr verlängern zu wollen, wurde die Belieferung über die Jamal-Europa-Leitung am 21. Dezember 2021 gänzlich eingestellt. Zuvor war es bereits zu einer Reduzierung des Gastransfers gekommen.
Denn Polen will sich, bis zur Inbetriebnahme der Baltic-Leitung am 1. Oktober 2022, unter anderem zunächst mit Gas aus den USA beliefern lassen, ebenso wie Deutschland, das sich wie Polen von Russland unabhängig machen möchte. Doch dann lieferten die USA plötzlich vorzugsweise nach China, weil das Land höhere Preise zahlte. Für die Lieferung über den Seeweg nahmen die Schiffe die Pazifik-Route.
Die 4196 Kilometer lange Jamal-Europa-Leitung führt von der Jamal-Halbinsel in Sibirien über Belarus, Polen bis nach Deutschland, und hat mehrere Abgänge. Sie befindet sich nicht in vollständigem Besitz der Firma Gazprom, sondern nur Anteilsweise. Für die Zuteilung der Gasmengen wird das „Reverse-Flow-Verfahren“ angewandt. Durch die Einstellung der Lieferung gelangt über dieses Rohr auch nach Deutschland kein Gas mehr.
Inzwischen erhält Polen einen Teil des benötigten Gases aus Richtung Deutschland — allerdings zu einem wesentlich höheren Preis: Einige deutsche Importeure kaufen den Rohstoff zu einem bestimmten Preis, und verkaufen ihn dann teurer weiter, nämlich zum Börsenpreis. Von Mallnow aus, gelegen in Brandenburg, wird das Gas nun durch die Europa-Jamal-Leitung in die entgegengesetzte Richtung nach Polen geleitet. Möglicherweise wird auch die Ukraine von Deutschland aus beliefert — ebenfalls mit dem in Mallnow eingespeisten Gas, welches die Jamal-Europa-Leitung in umgekehrte Richtung passiert, und anschließend durch das polnische Röhrensystem strömt.
Der Ende September 1996 geschlossene Jamal-Gasliefervertrag zwischen Gazprom und dem polnischen Unternehmen PGNIG läuft Ende 2022 aus. Anschließend will Polen das Gas aus den USA, Katar und über die noch fertigzustellende Baltic-Leitung beziehen.
Mittlerweile leeren sich die Gasspeicher in Deutschland, während Russland vorgeworfen wird, durch Preisspiele und Verknappung der Liefermengen die Inbetriebnahme der Leitung „Nord Stream 2“ zu erzwingen. In wenigen Wochen dürfte der Mangel jedoch ein Ende finden: Momentan fahren 20 Schiffe, beladen mit verflüssigtem Erdgas aus den USA, nach Europa. Aus anderen Erdteilen steuern zehn weitere Schiffe Europa an.
Nach Darstellung Russlands hat sich Europa die Lage selbst zuzuschreiben. Die russischen Vertragslieferungen über die Leitung „Nord Stream 2“ könnten deutlich umfangreicher und billiger sein, doch werde dieser Lieferweg abgelehnt. Nun müsse der Westen die benötigten Mengen zu den sehr viel höheren Marktpreisen beziehen. In Europa fürchtet man jedoch, noch stärker in die Abhängigkeit Russlands zu geraten, insbesondere, wenn sowohl das Produkt als auch der Lieferweg im Besitz ein und desselben Unternehmens sind, worauf Russland Kritikern zufolge hinarbeitet. Möglicherweise wird auch Druck von Seiten der USA ausgeübt. Denn das Land benötigt nicht nur Abnehmer für das deutlich teurere Fracking-Gas, sondern fürchtet auch, durch die Änderungen von Abhängigkeiten an Einfluss zu verlieren.
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