Hat es jemals eine Zeit gegeben, in der alle Menschen ein und derselben Überzeugung waren? Gewiss nicht — wohl aber gab es in bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, welche in Zyklen mit einander ähnelnden Begebenheiten abzulaufen scheint, das immer stärker werdende Bedürfnis, eine bestimmte Ansicht so vielen Leuten wie möglich als die einzig statthafte zu vermitteln. Dem Verlauf einer exponentiellen Kurve folgend, steigerten sich die Bemühungen hin zu einem Bedrängen, das umso unerbittlicher wurde, je näher der „Tag der Entscheidung“ zu rücken schien, und je mehr die nicht zu überzeugenden Menschen als Gefahr angesehen wurden. Stehen wir auch heute wieder am Beginn einer solchen Phase?
Für die Suche nach Indizien können die Gazetten herangezogen werden: Anfang September 2021 sprach der Bundesgesundheitsminister gegenüber der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ von einem „harten Kern“ der „Impfgegener-Szene“, den man nicht mehr überzeugen könne. Die Ablehnung dort habe fast schon einen religiös-fanatischen Charakter. Das Blatt „Die Zeit“ titelte im Juli 2021: „Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt“.
Ein zur gleichen Zeit übermäßiges Aufkommen von Wörtern wie „Leugner“ und „Verweigerer“ deutet auf eine wachsende Anzahl dogmatischer Menschen hin, die einer neuen Anschauung folgen, welche sie für ihre eigene und die absolute Wahrheit halten. Alles, was ihre Meinung ändern könnte, lehnen sie ab. Der Anspruch auf Absolutheit, Allgemeingültigkeit, Verbindlichkeit erstreckt sich über immer weitere Themenfelder und verändert schließlich den Alltag. Mit der verinnerlichten Auffassung, nur noch wenig Zeit zu haben, werden Menschen beschuldigt, weil sie das tun, was sie schon immer taten, und das sind, was sie schon immer waren.
Die neuen Überzeugungen verfestigen sich schließlich zu einem Dogma mit dem Gebot, es niemals zu hinterfragen. Dabei fällt es in den eskalierenden verbalen Gefechten immer schwerer, herauszufinden, wer sich in welche Richtung bewegt, und woran man sich selbst orientieren kann.
Wer einem Dogma verfallen ist, ob jene, die sich zur Mehrheit der Gesellschaft zählen und dies als Beleg für die Richtigkeit ihrer Überzeugung ansehen, oder Gruppen, die als Minderheit ausgemacht werden, darüber geben unter anderem die verwendete Rhetorik und die zunehmende Distanz zu Zweiflern Aufschluss. Denn Dogmen können eben nur bestehen, wenn sämtliche Zweifel unterbunden werden.
Weil diese Art der Lehre aber starr ist und im Laufe der Zeit immer mehr Menschen wachsende Diskrepanzen zu ihren eigenen Beobachtungen wahrnehmen, wird ein immer höherer Aufwand nötig, um das Dogma aufrecht zu erhalten. Dabei scheinen in der letzten Phase, wenn die Zeit in der Wahrnehmung der Menschen besonders drängt, sogar alle Mittel moralisch gerechtfertigt.
Empfänglich für tief eindringende Überzeugungen ist die Gesellschaft immer auf dem Höhepunkt einer Phase der gefühlten Unordnung, des gesellschaftlichen Verfalls, mit der Ansicht, die Welt sei nun aus den Fugen geraten. Den Wendepunkt bringt ein Ereignis von besonderer Aufmerksamkeit. Danach nehmen die Menschen natürlicherweise alles an, was in irgendeiner Weise mit Strenge und Disziplin verbunden ist, weil ein Mangel an Autorität später immer zu einem starken Verlangen nach selbiger führt. Bisweilen scheint es, als habe man seit Jahren auf diesen Moment gewartet oder gar darauf hingearbeitet. Was hat einflussreiche und strategisch weit vorausdenkende Menschen, zumindest, was ihr Kapital anbelangt, davon abghalten, den gut gemeinten Wandel Jahre früher und in einer verträglicheren Geschwindigkeit einzuleiten — beginnend mit ihren eigenen Unternehmen und Investitionen?
Vorgetragen von selbstsüchtigen Charakteren findet nun jene Überzeugung Zulauf, die eine grundlegende Änderung hin zu einer neuen Gesellschaft verpricht, in der es allen nur noch besser gehen kann. Aus einer gemeinschaftlichen Überzeugung wird ein Dogma, und dieses wiederum zur Grundlage für eine Ideologie, die wegen ihrer Starrheit bald nicht mehr fähig ist, den Erfordernissen der Zeit gerecht zu werden.
Dann folgt der eigentliche Umbruch, aus der schmerzlichen Erfahrung heraus, getäuscht worden zu sein, wenn Leid und Elend unübersehbar geworden sind.
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