EINWOHNERZAHLEN – WENN DIE DDR NOCH GEBLIEBEN WÄRE

Nach 1990 sanken die Geburtenzahlen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR deutlich. Hinzu kam die Abwanderung gen Westen, sodass sich im Osten immer mehr Wohnungen und Häuser leerten. Diese Wanderungsbewegungen hielten lange Zeit an, und das Resultat sind die heutigen ungleichen Verteilungen in der Anzahl und der sozialen Schichtung.

Am 27. Juni 2019 teilte das Statistische Bundesamt mit, Deutschland habe 83,0192 Millionen Einwohner zum Jahresende 2018 gehabt. Das waren 227’000 bzw. 0,3 % mehr als ein Jahr zuvor. Die Einwohnerzahl werde mindestens bis zum Jahre 2014 zunehmen, aber spätestens ab 2040 zurückgehen. Es wird mit einem Rückgang der Personen im Erwerbsalter und mit einer höheren Zahl alter Menschen gerechnet. Die verhältnismäßig hohe Zuwanderung könne diese Entwicklung nicht umkehren.

Derzeit sei sowohl eine Wanderungsüberschuss als auch ein Geburtendefizit zu verzeichnen. Im Jahre 2018 zogen gemäß der Angaben 386’000 Menschen mehr zu als weg. Zugleich überstieg die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten um 167’000. Insgesamt wuchsen die Einwohnerzahlen langsamer als in den beiden Jahren vor der aktuellen Erhebung.

Am 12. Juni 2019 veröffentlichte das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung Zahlen, denen zufolge die Einwohnerzahl auf dem Gebiet der einstigen DDR auf den Stand des Jahres 1905 zurückgefallen ist. Zugleich würden heute auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik so viele Menschen wie nie zuvor leben. Die Einwohnerzahlen beider Teile Deutschlands gehen gemäß der Studie weiter auseinander, und die Bedeutung dieser Entwicklung werde unterschätzt, heißt es.

Doch wie sähen die Zahlen aus, wenn es die DDR noch geben würde; welche Vorstellungen hatte man damals, und welche einflussreichen Faktoren bleiben bei den Prognosen unberücksichtigt?

Zur Entwicklung der Geburten- und Einwohnerzahlen in der DDR bis zum Jahre 2000 schrieb Dr. sc. med. Georg Thiele von der Friedrich-Schiller-Universität Jena folgenden Artikel, der in der Zeitung „Volkswacht”, Ausgabe vom 5. November 1981, erschien.

Der Anstieg der Geburten in der DDR seit 1975 gehört zu den augenfälligsten Wirkungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED. In seiner Autobiographie „Aus meinem Leben” widmet sich Erich Honecker den Problemen, die mit der Entwicklung der Geburtenrate zusammenhängen, sowie unserem Vorgehen zu deren Lösung ein eigenes Kapitel. Wie in der DDR, war in einer ganzen Reihe anderer Länder etwa seit den Jahren 1963 — 1966 ein mehr oder weniger beträchtlicher Rückgang der Geburten zu verzeichnen. Er belief sich z. B. in den Niederlanden auf über 30 %, und in Finnland ging die Geburtenrate seit 1947 kontinuierlich auf etwa 50 % des Ausgangswertes zurück. Der Geburtenrückgang in der DDR betrug seit 1963 40 Prozent. Inzwischen ist die Geburtenzahl in unserem Land wieder angestiegen; sie lag 1980 mit mehr als 245 000 lebendgeborenen Kindern so hoch wie im Jahre 1968.

Wie sich die Geburtenrate in den nächsten Jahren weiter entwickeln wird, läßt sich nur schwer voraussagen, da ihre Höhe naturgemäß von einer Vielzahl objektiver und subjektiver Faktoren beeinflußt wird, die im einzelnen und in ihrer komplexen Wirkungsweise noch nicht genügend erforscht sind.

An vorderer Stelle steht unter diesen Faktoren der Anteil der Frauen in den Altersgruppen, die am häufigsten Kinder zur Welt bringen. In der DDR werden gegenwärtig zwischen 70 und 80 Prozent aller Kinder von Müttern geboren, die 25 Jahre alt oder jünger sind. Es wirkt sich also die zahlenmäßige Stärke der Altersjahrgänge bis einschließlich 25 Jahre unter der weiblichen Bevölkerung auf die Geburtenhäufigkeit aus.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist unsere Sozialpolitik, die durch die Beschlüsse des VIII., IX. und X. Parteitages der SED zur Erfüllung der Hauptaufgabe kräftige Impulse erhielt. Als aktuellste Maßnahme sei nur die Erweiterung der Unterstützung junger Eheleute genannt, die am 1. 9. 1981 wirksam wurde.

Schließlich muß hervorgehoben werden, dass die Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft sich sehr nachdrücklich auf die Geburtlichkeit auswirkte und auswirken wird. Dabei muß man beachten, daß Kinderfreundlichkeit nicht in erster Linie durch materielle Stimuli entwickelt wird, sondern aus der gesellschaftlichen Grundkonzeption eines Staates erwächst. In der BRD wurden in den letzten Jahren auch einige Maßnahmen zur Hebung der Geburtlichkeit eingeführt (die jetzt bekanntlich dem Rotstift zugunsten des Rüstungshaushaltes zum Opfer fallen!), die aber durchweg die sinkende Tendenz oder Stagnation der Geburtenzahlen auf niedrigem Niveau nicht aufhalten konnten.

Versucht man aus dem bisher Gesagten eine Voraussage auf die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte abzuleiten, so kann unter Berücksichtigung des Bevölkerungsaufbaus in der DDR erwartet werden, daß sich die jährliche Geburtenrate auf ein Niveau zwischen 240 000 und 250 000 einstellen wird. Für den Bezirk Gera können jährlich 10 000 Geburten vorausgesagt werden, wobei 1981 etwa 10 300 — 10 400 Kinder in unserem Bezirk das Licht der Welt erblicken werden. Nach 1985 wird die Geburtenrate wahrscheinlich wieder etwas spürbar sinken und zwischen 1990 und 1995 einen erneuten Tiefpunkt erreichen, der im Bezirk Gera zwischen 9000 und 10 000 Geburten liegen kann. Das ergibt sich aus der Abnahme der Frauenjahrgänge, in denen die meisten Geburten registriert werden. Nach 1995 werden die Geburtenzahlen dann wieder kräftig ansteigen.

Unter diesen Voraussetzungen kann für die Bevölkerungsentwicklung in der DDR erwartet werden, daß sie in den nächsten Jahren stabil bleiben wird. Das bezieht sich auf die Gesamtbilanz, die sich aus der Differenz zwischen Geburtlichkeit (Geborene je 1000 Bürger) und Sterblichkeit (Gestorbene je 1000 Bürger) ergibt. Im Jahre 1979 betrugen die Werte für die Geburtlichkeit 14,0 und für die Sterblichkeit 13,9, woraus sich eine positive Bilanz von etwa 1670 ergibt. Für die BRD ergab sich für 1979 eine negative Bevölkerungsbilanz von ca. 128 800.

Die Erwägungen hinsichtlich der Entwicklungen der Geburtlichkeit und der Bevölkerungsgröße haben aber eine Grundvoraussetzung: die Erhaltung des Friedens. Ein künftiger Krieg würde auf die Menschheit derart zerstörend wirken, wovon sie sich in vielen Generationen nicht erholen könnte. Deshalb müssen in unserer Zeit alle Antworten und Fragen nach der Bevölkerungsentwicklung mit der Sicherung des Friedens beginnen.

„Volkswacht”, 5. November 1981, Nr. 261

Der damalige Bezirk Gera erstreckte sich über 4004 Quadratkilometer und hatte 742’000 Einwohner im Jahre 1989 und 711’491 am 3. Oktober 1990. Die Abwanderung machte sich hier bereits deutlich bemerkbar. Das heutige Ostthüringen zählte, ohne den Kreis Altenburger Land, 574’851 Einwohner auf 4115,48 Quadratkilometern am 31. Dezember 2017.

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