In Thüringen hat das Amt für Verfassungsschutz 550 sogenannte Reichsbürger identifiziert. 400 weiteren Hinweisen werde nachgegangen, heißt es. 50 der observierten Personen sollen rechtsextrem sein. In Sachsen wird die Zahl der Reichsbürger auf 700 geschätzt. Derweil zählt das Bundesamt für Verfassungsschutz deutschlandweit rund 18 000 Personen zu den „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“. Darunter gebe es 950 Rechtsextremisten. Laut dem Bundesamt werden inzwischen deutlich mehr Menschen dieser Szene zugeordnet, da sich der Einblick verbessert habe.
Die Reichsbürgerszene habe sich im vergangenen Jahr zunehmend radikalisiert, teilt das Bundesamt mit. Sie sei für eine Vielzahl von Straftaten verantwortlich. Mehr als 1000 Personen besäßen eine waffenrechtliche Erlaubnis. Die Agitation im Internet sowie in sozialen Netzwerken enthemme sich. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ als eine staatsfeindliche Bewegung, deren Gefährdungspotential gestiegen sei.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Hans-Georg Maaßen, erklärte hierzu:
„Wir sehen bei Teilen der Reichsbürgerszene eine erhebliche Gewaltbereitschaft. Umso problematischer ist es, dass so viele Reichsbürger eine Waffenberechtigung haben. Daher werden in Zusammenarbeit mit den Ländern die waffenrechtlichen Erlaubnisse überprüft. Prioritäres Ziel ist es, auf deren Entzug hinzuwirken.“
Als Reichsbürger bezeichnen die Verfassungsschützer Personen, die den Status und die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland in Frage stellen. Sie behaupten, bei jener handele es sich nicht um einen souveränen Staat, sondern um eine Wirtschafts- und Verwaltungseinheit der Alliierten, welche auf einem Teilgebiet des Deutschen Reiches errichtet worden sei. Das Deutsche Reich sei im Jahre 1945 aus rechtlicher Sicht lediglich „entkernt“ worden. Man habe seine staatlichen Organe und Strukturen beseitigt, es damit handlungsunfähig gemacht und in dem besetzten Subjekt „Deutsches Reich“ Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten geschaffen, welche durch die Alliierten gelenkt würden. Die Kapitulation der Wehrmacht am 7. und 8. Mai 1945 habe nur militärische Bedeutung gehabt und keinen Einfluss auf den rechtlichen Status des Deutschen Reiches.
Bei der Argumentation wird unter anderem folgendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1973 genutzt (Auszug):
Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 [277]; 3, 288 [319 f.]; 5, 85 [126]; 6, 309 [336, 363]), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig.
Juristen interpretieren das Urteil jedoch so, dass die Bundesrepublik als Völkerrechtssubjekt identisch mit dem Deutschen Reich ist. „Deutsches Reich“ und „Bundesrepublik Deutschland“ seien lediglich zwei verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Gebilde – etwa vergleichbar mit einer Frau, die nach der Heirat den Nachnamen ihres Mannes annimmt, als Person aber dieselbe bleibt.
Das Grundgesetz betrachten Reichsbürger als nicht mehr rechtmäßig und führen zur Begründung die Anlage zum II. Haager Abkommen von 1899 sowie zum IV. Haager Abkommen von 1907 „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges“ an. Dort werde es als „Provisorium zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in einem militärisch besetztem Gebiet für eine bestimmte Zeit“ definiert. In den Durchführungsbestimmungen dieser Haager Landkriegsordnung sei festgelegt, dass ein Land höchstens 60 Jahre lang besetzt bleiben darf. Innerhalb dieser Zeit müsse die Siegermacht einen Friedensvertrag abschließen.
Doch diese Definition von Grundgesetz und die Festlegung zur Besatzung existierten dort nicht, sagen Juristen und weisen darauf hin, dass der Begriff „Verfassung“ die Grundordnung eines politischen Gemeinwesens bezeichne. Diese sei für die Bundesrepublik im Grundgesetz niedergelegt. Man halte lediglich an der Bezeichnung „Grundgesetz“ fest, wenngleich es seit der Wiedervereinigung kein Provisorium mehr sei. Unter Betrachtung des Artikels 42 der Haager Landkriegsordnung könne man Deutschland auch nicht als besetztes Land bezeichnen, denn ein Gebiet sei besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet. Dazu müsse die Besatzungsmacht imstande sein, der Zivilbevölkerung Anweisungen zu geben und diese auch durchzusetzen.
Zum völkerrechtlichen Status der Bundesrepublik Deutschland gibt es verschiedenen Sichtweisen. Zu beachten ist hier die Komplexität des Völkerrechts. Ein Gesetzeswerk, welches sämtliche Regeln enthält, gibt es nicht, stattdessen eine Vielzahl von Verträgen, Statuten und Urteile, welche teilweise nicht aufeinander abgestimmt sind.
Dies nutzen sogenannte Reichsbürger, um den Staat und seine Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass auch dieses Phänomen sich in das Gesamtbild einer von unten her zerfallenden Gesellschaft einfügt. Die zunehmende Distanzierung vom Saat und dessen Ordnung rührt offenbar daher, dass betroffene Schichten bzw. Gruppen fürchten, bei der sich abzeichnenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung künftig nicht mehr relevant zu sein. Möglicherweise ist die Radikalisierung in diesem Bereich eine Reaktion auf segregierende Bestrebungen von Seiten der Politik.
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